“el pueblo unido jamás será vendido” – der Putsch in Chile vor 50 Jahren aus Giessener Perspektive

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in Hamburg

Anno 1972 heuerte ich bei der Gießener “linken” Buchhandlung “Wissen und Fortschritt Buchhandelsges.m.b.H.” an, welche auch zwei Filialen in Marburg und Kassel betrieb. In Gießen wohnend, fand man mich überwiegend im Marburger Laden. Dies sei aber hier erst mal belanglos.

Seit dem Amtsantritt vom demokratisch gewählten chilenischen sozialistischen Präsidenten Allende 1970 nahm das chilenische Kulturleben einen gewaltigen Aufschwung. Aus dem zwar auch in  Deutschland inzwischen bekannten südamerikanischen Folk entwickelte sich das “Nueva Cancion”. Verkauften wir vorher relativ wenige Schallplatten aus dem französischen Tonträgerverlag “Le Chant du Monde” aus diesem Segment, wurden nun die Lieder und die Musik  von Victor Jara, Violetta Para, den Gruppen Quilapayun und Inti Illimani und dem argentinischen Folk-Sänger Atahualpa Yupanqui zu Rennern. In Deutschland griff der “pläne-Verlag” in Dortmund die Entwicklung auf und produzierte immer mehr südamerikanische Musik.

Buchhandlung Wissen und Fortschritt am Schiffenberger Weg aka “WuF” aka “Wifo”

Am Tag des Putsches waren die Gruppen Quilapayun und Inti Illimani (beide haben sich in jüngerer Zeit in jeweils zwei Gruppen aufgeteilt) zum Glück gerade auf Europatourneen. Victor Jara hingegen traf es hart. Er wurde am 10. Sept. verhaftet, in das in ein Massengefängnis umgewandelte Stadion von Santiago de Chile eingeliefert und am 16. Sept. mit mindestens 44 Schüssen niedergestreckt. Erst dieses Jahr im August wurden 7 seiner Mörder, alle ehem.Militärangehörige, endgültig rechtskräftig verurteilt. Der Prozeß begann 2018. In 2016 wurde ein Leutnant, der in die USA auswich und US-Bürger wurde, in einem Zivilprozeß zu hohem Schadenersatz gegenüber der Familie Jara’s verurteilt.

aufgenommem in Hamburg_Oevelgönne
ein paar Jahre später

Das Lied “El pueblo unido…” wurde zur Hymne des Widerstands gegen Pinochet und die Putschisten. “Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden”. Hannes Wader schuf später eine deutsche Version. der Refrain ist aber schon einiges älter: der fortschrittliche kolumbianische Politiker Jorge Eliécer Gaiton gebrauchte die Sentenz in seinen Reden schon in den 1930/40er-Jahren.

in Hamburg

Bis 1979 kamen in die BRD ca 2.700 chilenische Flüchtlinge und in die DDR ca. 5.000. Unter letzteren auch die chilenische Präsidentin in jüngerer Zeit, Michelle Bachelet, später auch UN-Menschenrechtskommissarin. Auch in  Gießen bildete sich nach einiger Zeit ein Chile-Solidaritätskomitee. In unserer Buchhandlung gelang es uns, nach langem Papier- und Formularkrieg einen chilenischen Flüchtling, Max Eytel Lagos, einzustellen. Er genoss die Großzügigkeit unsererseits, sich hauptsächlich um seine Landsleute kümmern zu dürfen. An der Marburger Uni fand ein chilenischer Gesellschaftswissenschaftler als Dozent oder wiss. Mitarbeiter oder so was eine Anstellung. Er hielt sich und die hiesige Community stets über die Geschehnisse in Chile auf dem Laufenden.

Im hessischen Landtag wurde am 20.6.74 eine Kleine Anfrage der CDU behandelt, die wissen wollte,  ob unter den Personen, die nach dem Septemberumsturz in Chile als politische Flüchtlinge einreisten, sich auch 90 Tupamaros, Stadtguerilleros, Flugzeugentführer und andere international als Revolutionäre bekannte Personen befunden haben, wie dies Schweizer Zeitungen meldeten.

Allendeviertel in Berlin
Allendeviertel in Berlin

Im Frühjahr 2074 erschien im Pahl-Rugenstein-Verlag in Köln das bekannte “Chile-Schwarzbuch”, genau ist der Titel “Chile – ein Schwarzbuch”. Man findet es auch heute noch vielfach bei Internetanbietern. In der “Arbeitsgemeinschaft demokratischer Buchhändler und Verleger”, wozu unsere Buchhandlung gehörte, nebst weiteren 34 sog. “collectiv-Buchhandlungen”, wurde eine Auslieferungsstafette mit Lkw’s, Transportern und Kombis organisiert, welche die Bücher noch in der Nacht der Fertigstellung zu allen Buchhandlungen brachte. Das Interesse war schon im Vorfeld groß.

Chilenisches Segelschulschiff “Esmeralda” 1996 in Hamburg
“Esmeralda” 1996 in Hamburg

Der “zweitrangige” Häftling nach Victor Jara war der Generalsekretär der KP Chiles, Luis Corvalan. Er wurde in das Konzentrationslager auf der Insel Dawson gebracht. 1976 wurde er in Zürich gegen den sowjetischen Dissidenten Wladimir Bukowski ausgetauscht und lebte bis 1988 in Moskau. 1988 endete das Regime Pinochets, nachdem er ein von ihm selbst festgelegtes Referendum gegen 56% der Stimmen verlor. Die “Transition”, der Wandel zur Demokratie, dauerte jedoch lange. So wurde, wie in Südamerika häufig, eine Generalamnestie für alle Verantwortlichen des Pinochetregimes verfügt. Vor ein paar Tagen ist übrigens der derzeitige Vorsitzende der KP Chiles, Guillermo Teillier, verstorben. Tausende, Michelle Bachelet, der amtierende Präsident Boric, Minister*innen und Bürgermeister waren im Trauerzug. Guillermo war 64 Jahre Parteimitglied.

Plakat der kommunistischen Jugend Chiles, in Deutschland auch von der DKP verbreitet

 

 

 

 

 

Kurt Wirth
Ex-Gießener, Weltbürger, Bürgerreporter seit 2012, interessiert an Natur, Wandern, (Inlands-)Reisen, aber auch an Geschichte, Zeitgeschichte, Politik.

2 Kommentare

  1. Besten Dank, Herr Wagner. Ich kann mich leider nicht erinnern. Hingegen gab es in Marburg, ebenfalls ein paar Häuser weiter von uns, den “Buchladen Roter Stern” schon das eine oder andere Jahr vor unserem Laden (der 1971 öffnete). Und den gibt es auch heute noch, in Kombination mit einem Café. Ob die Ambitionen dieselben blieben, weiß ich nicht. Wir hatten seinerzeit weder ein besonders herzliches, noch ein gespanntes Verhältnis zueinander und ein großer Teil der Kunden besuchte beide Buchhandlungen regelmäßig und lauerte da wie dort auf Neuerscheinungen. Ebenso fand sich die “Crème de la Créme” der linken Geister der Universität in beiden Läden zum nachmittäglichen wissenschaftlichen “Stehkonvent” ein.
    Es gab neben unserem bescheidenen Verbund der “Arbeitsgemeinschaft demokratischer und sozialistischer Buchhändler und Verleger” den 1970 gegründeten “Verband linker Buchhändler” (VLB), dem in seinen Spitzenzeiten etwa 200 Buchhandlungen angehörten.
    Soli-Konzerte mit Quilapayun und Inti Illimani fanden sowohl in Marburg wie in Gießen statt, wurden aber vom jeweiligen ASTA der Uni’s bzw. dem Solidaritätskomitee durchgeführt. Wir kreuzten da jeweils mit unseren Büchertischen auf. Von den anderen ist mir das nicht mehr erinnerlich.
    Übrigens hatte im Hause des zu unserem Verbund gehörenden Frankfurter “Buchzentrum in der Goethestrasse” ein Exil-Chilene ein Restaurant aufgemacht.

  2. Danke Herr Wirth für Ihren Artikel zu einem Jubäläum, das in der Geschichte der Giessener Linke (alle Fraktionen) sicherlich einen gebührenden Platz verdient. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass – zumindest in einem Nebensatz – für die Nachgeborenen berichtet wird, dass es in Giessen eben neben dem parteigebundenen Buchladen an der Ecke Nahrungsberg / Schiffenberger Tal ein paar Meter stadteinwärts die Buchhandlung “Kleine Freiheit” in den Siebzigern / Achzigern gegeben hat. Die “Moskau-Leutchen” gingen da hin und die undogmatischen Linken (im Gegensatz zu Marburg waren das locker fünfmal so viele, wie die andere Fraktion) eben dort hin. Vielleicht erinnert sich ein Leser daran, wann dieser Buchladen aufgemacht hat.