Letzter Zeitzeuge aus der NS-Opferfamilie Kusserow verstorben – Nachruf auf Paul Gerhard Kusserow

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Letzter Zeitzeuge aus der NS-Opferfamilie Kusserow verstorben

Paul Gerhard verstarb am 21. Oktober im hessischen Grünberg im Alter von 91 Jahren. Ihm und seiner Familie wurde zur NS-Zeit unvorstellbares Leid angetan.

Grünberg, 27.10.2022 – Paul Gerhard war das elfte und damit letzte Kind von Franz und Hilda Kusserow und machte so mit seiner Geburt 1931 das Familienglück komplett. „Es war ein schönes Familienleben“, beschrieb seine Schwester Annemarie zu Lebzeiten ihre Jugend. „Wir hatten ein Klavier und alle möglichen Instrumente und haben auch in der Familie sehr viel musiziert.“ Besonders an gemeinsame Momente im Garten, mit ihren Hühnern und dem Hund, erinnerten sich alle Geschwister gern. „In der Familie ging es lustig her“, erzählte Paul Gerhard. Die Kusserows sind Zeugen Jehovas und in der Familie wird daher oft und gern über den Glauben gesprochen. Besonders die Bibel spielt eine zentrale Rolle. Auch bei den Nachbarn ist die Familie beliebt. Doch der aufkeimende NS-Terror wird dem Familienidyll bald ein jähes Ende setzten.

Nächstenliebe wird zum Verbrechen
Kurz nachdem Adolf Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannt wird, verbot die NSDAP Jehovas Zeugen. Kein Wunder: Jehovas Zeugen äußerten schon früh öffentlich Kritik an der aus christlicher Sicht menschenverachtenden Ideologie der Nationalsozialisten. Auch die Kusserows machten deutlich, dass sie sich als Christen „politisch neutral“ verhalten wollten. In der Schule verweigerten die Kinder, darunter auch Paul Gerhard, beispielsweise den „Hitler-Gruß“ und das Singen des „Deutschlandliedes“, worauf der Schulleiter in einem langen Brief an die Eltern schrieb: „Sie sind die einzigen in der Schule, die keine überzeugten Nationalsozialisten sind. …Und das ist das Schlimme an Ihren Kindern, dass sie so erzogen sind, dass sie alle Länder soweit lieben, wie sie auch Deutschland lieben.“ Jahrelang wird das Haus der Kusserows von der Gestapo ständig beschattet. Es erfolgen zahlreiche Durchsuchungen, bei denen alles verwüstet wird. Der Vater wird aus dem Postdienst entlassen, mit der Begründung, ein „die Öffentlichkeit bedrohender Gewohnheitsverbrecher“ zu sein, nur weil er die Bibel las. Doch das war erst der Anfang.

Gewaltsame Trennung der Familie
Bald werden die älteren Geschwister sowie der Vater wegen Wehrdienstverweigerung zu mehrjährigen Haftstrafen in verschiedenen Zuchthäusern und Konzentrationslagern, darunter die berüchtigten Lager Ravensbrück, Sachsenhausen und Dachau, verurteilt. Eines Tages steht die Gestapo wieder vor der Tür der Kusserows. Dieses Mal, um den siebenjährigen Paul Gerhard zusammen mit seinen Geschwistern Elisabeth und Hans Werner abzuholen. „Das Letzte, was versucht wurde: sie sollten ‚Heil Hitler‘ sagen, und das haben sie nicht getan. Sie sind dann eingeladen worden in das Auto“, erinnerte sich Annemarie. „Am Abend haben sie dann die Kinder abgeliefert und zwar war das ein ehemaliges Kloster, mit dicken Mauern umgeben, praktisch ein Kindergefängnis, und sie sind zwischen kriminelle Kinder gesetzt worden… Das war gewaltsame Fürsorgeentziehung.“ Lange Zeit wusste keiner in der Familie, wohin die Kinder gebracht worden waren.

1942 kommt Paul Gerhard schließlich nach Siddinghausen zu einer fremden Pflegefamilie, die als „reichstreu“ gelten. Auf dem Bauernhof der Familie muss der inzwischen Elfjährige jeden Tag nach der Schule schwer arbeiten. Auch wenn er dort, wie er sagte, „freundlich behandelt“ wurde, so vermisste er natürlich seine Familie. Dennoch hielt er weiterhin an seinen christlichen Überzeugungen fest. 1944, als er einmal die Erlaubnis der Pflegemutter bekam, einen Ausflug zu machen, besuchte er heimlich eine Familie in Soest, die auch Zeugen Jehovas waren. Dort bekannte er sich offiziell zu seinem Glauben und ließ sich in einer Badewanne taufen.

Rückkehr nach Bad Lippspringe
Kurz nach der Befreiung durch die Alliierten hält 1945 plötzlich ein Auto vor dem Bauernhof von Paul Gerhards Pflegefamilie. Ein ehemaliger Häftling aus dem KZ Wewelsburg in gestreiftem Haftanzug steigt aus und ruft zu einem Jungen, der gerade Holz hackt: „Hallo, sag mal, wohnt hier ein kleiner Junge, der in der Bibel liest und in der Schule kein ‚Heil Hitler‘ sagen wollte?“ Da sagte Paul Gerhard: „Das muss ich wohl sein!“ „Du bist frei, pack deine Sachen, du kommst mit.“ Schließlich wurde Paul Gerhard von Freunden der Familie wieder zu seinem Elternhaus nach Bad Lippspringe gebracht. Doch wie der Vierzehnjährige bereits erfahren musste, werden nicht mehr alle seine Geschwister heimkehren. Seine älteren Brüder Wilhelm und Wolfgang wurden wegen Wehrdienstverweigerung 1940 und 1942 im Alter von 20 und 25 Jahren hingerichtet. Die anderen überlebenden Familienmitglieder kehren völlig geschwächt und krank aus den verschiedenen Konzentrationslagern zurück. Dennoch beschreiben die Geschwister das Wiedersehen später wie folgt: „Ja, es war schon natürlich traurig, denn der Tod ist etwas Grausames. Aber durch die Hoffnung aus der Bibel hat man überhaupt Lebensmut, um weiterhin tätig zu sein für den Glauben. Nicht aufzugeben, nicht aufzugeben!“

Ein Leben für den Glauben
Paul Gerhard setzte sich zeitlebens für diesen Glauben ein. Auch wenn sein weiteres Leben nicht ohne Rückschläge verlief – seine erste Frau Ilse und seine Tochter Brigitte verstarben früh – so blieb Paul Gerhard ein lebensbejahender und hoffnungsvoller Mensch. Er besuchte als Zeitzeuge oft zusammen mit seinen Schwestern internationale Gedenkveranstaltungen, um über die Geschichte von Jehovas Zeugen zur NS-Zeit zu informieren – seine Geschichte. Die letzten Jahre lebte er zusammen mit seiner zweiten Ehefrau Claudia in Grünberg im Ortsteil Queckborn, wo sie regelmäßig aktiv am Gemeindeleben der Zeugen Jehovas in Laubach teilnahmen. Außerdem kämpfte er bis zu seinem Tod für die Herausgabe des historisch wertvollen Archivs seiner Schwester Annemarie – eine Sammlung an Fotos, Briefen und Dokumenten der Familie aus der NS-Zeit – welche das Militärhistorische Museum der Bundeswehr in Dresden mittlerweile sein Eigen nennt.

Wichtiges Mahnmal
Die Mitglieder der Familie Kusserow wurden in den 12 Jahren des NS-Regimes zu insgesamt 47 Jahren und 9 Monaten Haft verurteilt. An dieses Leid erinnern 13 Stolpersteine vor dem ehemaligen Familienhaus in Bad Lippspringe. Es sind wichtige Mahnmale, denn auch heute gibt es Kriege und Rassismus. Damit ist ein Erinnern an mutige Menschen wie Paul Gerhard Kusserow, die selbst unter stärkstem Druck christliche Werte auslebten und Zivilcourage zeigten, wichtiger denn je.

Fotolegende: Paul Gerhard Kusserow als letzter Zeitzeuge der NS-Opferfamilie verstorben

2 Kommentare

  1. Ich habe als gottloser Ungläubiger viele tiefgehende Differenzen zur Weltanschauung der “Zeugen Jehovas”, gleichzeitig große Hochachtung vor der konsequenten Haltung ihrer Mitglieder in den Zeiten des Hitlerfaschismus. Auch in unserer Gegend hat die Verfolgung der “Bibelforscher”, wie die Zeugen Jehovas im Nazijargon genannt wurden, ihre verdrängten Spuren verlassen.
    Der Fellingshausener Bürgermeister Georg Wagner, der nach 1933 sogar in die NSDAP eintrat, um sein Amt zu behalten, wurde 1937 verhaftet und in das KZ Lichtenburg verbracht und von dort nach Buchenwald deportiert. Er überlebte mehr als 8 Jahre Buchenwald und verstarb 1950 im Alter von 69 an den Haftfolgen.
    Die in Krofdorf-Gleiberg wohnenden Auguste und Albert Godglück wurden zu Haftstrafen verurteilt, Auguste nach Verbüßung der Haft ins KZ Ravemsbrück verbracht, sie verstarb 1948 im Alter von 58 an den Haftfolgen.
    Meine Anerkennung für einen wichtigen Artikel über die Familie Kusserow.