Gelesen im Februar 2022

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In „Unser kostbares Leben“ nimmt Autorin Katharina Fuchs die Leser mit auf eine interessante Zeitreise in die 1970er Jahre. Die Freundinnen Caro und Minka verleben ihre Kindheit in einer Kleinstadt im Rhein-Main-Gebiet, über der zumeist der süßliche Geruch aus der Schokoladenfabrik Cassada schwebte. Bei Ostwind allerdings zog beißender Chemiegestank durch die Straßen und zwang die Einwohner dazu, bei hermetisch abgedichteten Fenstern in ihren Häusern zu bleiben. Caro (alter ego der Verfasserin), Tochter des CDU-wählenden Generaldirektors von Cassada (unschwer zu erkennen: die Firma Sarotti) will von frühester Jugend an schreiben. Minkas Vater, der SPD-Bürgermeister fördert die Ansiedlung diverser Industriebetriebe, deren negative Auswirkungen das Mädchen mehr und mehr beunruhigen und sie später mit der neuen Partei „Die Grünen“ sympathisiert. Zahlreiche Probleme werden in der Geschichte angesprochen: Umweltzerstörung wie der geplante, zum Glück nie erfolgte Bau der Taunusautobahn, Flussverschmutzung mit Fischsterben, Tierversuche und mehr. Besonders fragwürdig: unerlaubte Medikamententests an Schutzbefohlenen in Kinderheimen, denen auch Claire, ein vietnamesisches Waisenkind, später Caros adoptierte Stiefschwester ausgesetzt ist. Der Roman nach Erinnerungen der Autorin ist ein perfektes Bild des Lebens in den 1970ern und frühen 80er Jahren auch wenn der geschilderte „Gelbe Regen“, Auswirkung eines schweren Chemieunfalls, erst 1993 fiel.

Villa Fortuna“ von Antonia Riepp (alias Susanne Mischke). – Die Deutsche Johanna Burger, Anfang 60, lebt seit Jahren zurückgezogen mit vielen Tieren in einer Berghütte nahe Belmonte (fiktiv Ort) in den mittelitalienischen Marken. Eines Tages steht ein Amerikaner namens Michael vor ihrer Tür und behauptet, er sei ihr Sohn. Johanna streitet es ab, doch der Mann hat eine Geburtsurkunde mit ihrem Namen als Mutter. Wie kann das sein? Johanna lässt ihn gegen ein Entgelt und etwas Hilfe in ihrem Haus wohnen. Schon bald lässt sie ihn nach und nach an ihren Erinnerungen teilhaben. Erinnerungen, die sie mehr als 40 Jahre zurückführen nach Oberstdorf als die 16Jährige nach einem „Fehltritt“ im Italienurlaub von ihrer bigotten Mutter in ein Entbindungsheim für „gefallene Mädchen“ gesteckt wird, weil sie „Schande“ über die Familie bringe. Das Lesen des fesselnden, gut geschriebenen Romans erfordert etwas Konzentration, da er kapitelweise zwischen den Zeiten 1974/75/76, 2006 und 2020 sowie zwischen den Protagonisten Johanna, Gabriella und Michael hin und her wechselt. Harte Kost, wenn man liest, was sich in diesen Geburtshäusern abspielte, die es tatsächlich bis in die 1980er Jahre in Bayern gab. Ein sehr guter und nachdenklich machender 2. Teil der „Belmonte-Trilogie“. Ich freue mich schon auf Band 3 „Santo Fiore“, der im Mai 2022 erscheinen wird.

Das Haus in der Nebelgasse“ von Susanne Goga spielt in London 1900. Matilda Gray unterrichtet als Lehrerin an einer Schule für „höhere Töchter“, die dort in erster Linie auf eine „gute Partie“ vorbereitet werden sollen. Ihre Schülerin Laura Wesley will dagegen mehr an Bildung und Wissen, doch eines Tages erscheint plötzlich ihr Vormund und nimmt sie mit auf eine Reise in wärmere Gefilde, weil sie angeblich gesundheitliche Probleme habe. Matilda hegt berechtigte Zweifel und zusammen mit dem Historiker Stephen Fleming geht sie nach einer verschlüsselten Nachricht von Laura dem rätselhaften Verschwinden des Mädchens nach. Sie stoßen auf ein überaus tragisches Familiengeheimnis, das zurückführt ins Pestjahr 1665 und zum titelgebenden Haus in der Nebelgasse. Gut recherchiert, leicht lesbar und flüssig geschrieben wie alle Romane der Autorin. Die alte Geschichte um die Pest lässt Vergleiche mit der Corona-Pandemie zu. Wie gut es uns doch heute geht, auch wenn man mal ein paar Tage in Quarantäne verbringen muss.