Lange Schatten des Kaiserreichs reichen bis heute

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Professor Conze sprach im Oberhessischen Geschichtsverein – Gut  besucht   Auch zum zweiten Vortrag des Oberhessischen Geschichtsverein konnte dessen Vorsitzender Michael Breitbach sich über den guten Besuch freuen. Mit Professor Dr. Eckhart Conze, der in Marburg neuere und neueste Geschichte lehrt, konnte er einen der besten Kenner dieses Wissensgebietes begrüßen und erinnerte an dessen Vortrag über Versailles und die Folgen  an gleicher Stelle im Netanyasaal des Alten Schlosses.

Der Referent stellte zunächst klar, dass das Kaiserreich einerseits zwar eine abgeschlossene Epoche darstelle, allerdings großen Einfluss nicht nur auf die Folgejahre der Weimarer Republik  und die Nazizeit hatte, sondern bis in die Gegenwart der Bundesrepublik reiche. Wie schon Breitbach in seiner Einführung machte er dies am 9. November, einem Schicksalstag der deutschen Geschichte, deutlich, wobei er ebenfalls an die Hinrichtung des Radikaldemokraten Robert Blums am 9. November 1848 erinnerte. Außerdem unterstrich er die Worte des Bundespräsidenten Steinmeier, der in Bezug auf die “Wegbereiter der Demokratie”  davon sprach, dass es überhaupt nichts Großes und Gutes gegeben hätte, wenn jeder glaube, er könne doch nichts ändern.

Thomas Mann habe das deutsche Reich nach 1945 als einen “Pfahl im Fleisch der Welt” bezeichnet und damit gemeint, dass schon die Gründung des Kaiserreichs eine Provokation Frankreichs darstellte , verstärkt durch die Annektierung Elsaß-Lothringens,und einen langen Schatten auf die Weimarer Republik geworfen habe.Damals wie heute habe sich die Frage gestellt, wer oder was die deutsche Nation sei, allein determiniert durch Abstammung oder  gemeinsame Kultur ? Wilhelm I. habe deutlich genug erklärt , kein Volkskaiser sein zu wollen. Bei der Reichstagseröffung am 21.3. 1871 sei deutlich geworden, dass die Volksvertreter in diesem “autoritären Nationalstaat” mit latentem Bellizismus nur Statisten waren und das Reich bis 1918  “ein Machtstaat vor der Demokratie” gewesen sei.

Conze räumte auch mit der von ihm für falsch gehaltenen Ansicht auf, dass der deutsche Kolonialismus erst mit Wilhelm II. begonnen habe, während Bismarck nach der Reichsgründung  das Reich für “saturiert” erklärt und an einer euopäischen Friedensordnung gearbeitet habe. Der Anfang des deutschen Kolonialismus habe, so Conze, bereits in der Bismarckzeit gelegen, und der Verlust aller Kolonien habe Deutschland im Unterschied zu anderen Mächten lediglich den Prozess der Entkolonialisierung erspart. Heute  beschäftige man sich erstmals ernsthaft mit einer Entschädigung für die Opfer des Hereroaufstandes und der Rückgabeforderung von Kunstwerken unterworfener Völker in deutschen Museen.

Der mit aufschlussreichen Bildern illustrierte, sehr detailreiche Vortrag Conzes machte klar, dass in der Gegenwart ein neuer Nationalismus erkennbar sei, der zum Teil mit rassistischen Argumenten operiere, ähnlich wie es im Kaiserreich durch Vereine wie die Alldeutschen propagiert wurde, illustriert durch den “Sturm auf den Bundestag” am 29.8. 2020. Zudem habe ” die koloniale Vergangenheit Deutschland eingeholt” und die soziale Frage stehe weiter auf der politischen Tagesordnung. Fotos: Steffek / Dr. Hans-Wolfgang Steffek M.A.