Gelesen im August 2021 – Teil 2

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Mittagsstunde“ von Dörte Hansen. – Was für ein schönes Buch. Voller Poesie, aber auch von sehr viel Melancholie durchzogen. Der 1966 geborene Ingwer Feddersen, Professor für Vor- und Frühgeschichte an der Uni Kiel, seit Jahren in einer 3er-WG lebend, nimmt sich ein Sabbatical, kehrt in den Gasthof seiner Großeltern im fiktiven Dorf Brinkebüll zurück, um dort die beiden über 90jährigen zu betreuen. Großvater Sönke schenkt zwar immer noch Bier und Schnaps aus, braucht aber inzwischen einen Rollator und lässt sich vom Enkel waschen, nach wiederholten Protesten sogar endlich auch mit warmem Wasser. Großmutter Ella hat Alzheimer und zunehmend Mühe sich zu orientieren. In Rückblicken erfährt der Leser vom Werdegang des Dorfes und seiner Bewohner. Es dauerte zwar eine Weile, bis ich drin war im Buch, doch dann hat es mich nicht mehr losgelassen. Mit viel Empathie und in einer wunderbaren Sprache erzählt die Autorin über das Dorfgeschehen, Blütezeit und Niedergang, sowie vom Leben und Leiden seiner Bewohner von der Mitte der 1960ern bis heute. Der Roman wird gerade vom ZDF verfilmt mit Charly Hübner als Ingwer.

Die fremde Spionin“ von Titus Müller. – Als Ria 10 Jahre alt war, wurden ihre Eltern von der Stasi abgeholt, sie und ihre Schwester getrennt und bei unterschiedlichen, linientreuen Pflegeeltern untergebracht. Jahre später tritt Ria eine Stelle im Ministerium für Außenhandel an. Nun sieht sie eine Chance, ihre Schwester zu finden und mit der Staatsmacht irgendwie abzurechnen. Im Sommer 1961 werden plötzlich die Grenzen dicht gemacht und die junge Frau befindet sich mittendrin im Geschehen, verstrickt in Spionagetätigkeiten für den Westen. Der Autor erzählt sehr informativ und hervorragend recherchiert von den Geschehnissen rund um den Mauerbau sowie vom Leben in der DDR. Muss man lesen, wenn man die damaligen Ereignisse verstehen will.

Da es leider ein paar Monate dauert bis Teil 2 erscheint und ich gerne ein weiteres Buch von T. Müller lesen wollte, habe ich endlich den schon etwas älteren Roman „Nachtauge“ aus meinem SUB (Stapel ungelesener Bücher) befreit. Es sind 2 Geschichten, die hier nebeneinander her laufen. Im Kriegsjahr 1943 befindet sich nahe der Möhnetalsperre ein Barackenlager für osteuropäische Zwangsarbeiterinnen, die gezwungen werden, in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Lagerleiter Georg Hartmann, eigentlich Lehrer, bekam durch seinen Schwager, einem Gestapo-Kommissar, diese Stelle vermittelt, damit er nicht an die Front musste. Da Georg das Regime kritisch betrachtet, versucht er den gefangenen Frauen das Leben etwas erträglicher zu machen. Eine gefährliche Liebesbeziehung zur Ukrainerin Nadjeschka bahnt sich an. Zur gleichen Zeit jagt in England Eric Knowlden vom MI5 eine deutsche Spionin, die „Nachtauge“ genannt wird. Die Frau muss unbedingt gefunden werden, um zu verhindern, dass sie die Operation „Chastise“, die Zerstörung von Talsperren in Hessen und im Ruhrgebiet, an ihre Landsleute verrät. Der Autor schafft es hervorragend den Alltag im Nazi-Deutschland begreiflich zu machen. Er zeigt auch, wie Widerstand im Kleinen geht, z.B. mittels Botschaften, die in Streichholzschachtel versteckt verteilt werden: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, erst geht der Führer und dann die Partei.“ Ein hervorragender Roman.

Herzfaden“ von Thomas Hettche. – Eine im wahrsten Sinne des Wortes zauberhafte Geschichte über die Entstehung der Augsburger Puppenkiste. Nach einer Vorstellung gerät ein 12jähriges Mädchen durch eine geheime Tür auf einen Dachboden mitten unter die Puppen des Theaters darunter Prinzessin Li Si, der kleine Prinz, das Urmel, Kalle Wirsch u.a., auf deren Größe sie schrumpft. Dann betritt Hatü, die längst verstorbene Hannelore Oehmichen die „Bühne“ und erzählt dem Kind von der Entstehung und Entwicklung des Marionettentheaters ihrer Familie, das während des 2. Weltkrieges seinen Anfang hatte. Das märchenhafte Abenteuer des Mädchens ist in roter Schrift gedruckt, die Berichte von Hatü in blauer. Hettches Roman war stand 2020 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Gewonnen hat ihn ein anderer Roman, aber Hettche hätte ihn durchaus verdient.