Die Auseinandersetzung um die Verkehrssituation in Reiskirchen nimmt immer bizarrere Züge an. Seit Jahren stehen sich Lippenbekenntnisse und Taten diametral gegenüber. Alle Parteien behaupten, für eine Bahnhaltestelle in Lindenstruth zu sein, für Verkehrsberuhigung, mehr Fahrradinfrastruktur und Einkaufsmöglichkeiten in den Dörfern. Doch praktisch tun Verwaltung und führende Köpfe der drei großen Parteien SPD, CDU und Freie Wähler dafür nichts, boykottieren lieber Gespräche und praktische Vorschläge. Immer schon erweckte das den Verdacht, statt konkreten Verbesserungen nur verschleiern zu wollen, dass neue Wohn- und Gewerbegebiete plus Straßenneubauten die Hauptziele des Ortes an der gleichnamigen Autobahnabfahrt sind. So strebt die Reiskirchener Politik seit Jahren eine große Umgehungsstraße um den Ortskern und Lindenstruth. Dass dadurch landwirtschaftliche Höfe, Flächen und die wichtigste Erholungszone der Gemeinde verschwinden, das Flora-Fauna-Habitat Jossollertal, Anwohner*innen und das nahegelegene Martinsheim beeinträchtigt, wird ebenso ignoriert wie die offiziellen Straßenverkehrszählungen (SVZ), die abnehmende PKW- und noch mehr LKW-Verkehr zeigen – und das trotz des durch die Gemeinde selbst hervorgerufenen zusätzlichen Verkehrs durch immer neue Flächenversiegelung.
Seit Mittwoch ist die bizarre Auseinandersetzung um eine Posse reicher: SPD, CDU und Freie Wähler stimmten geschlossen gegen einen Antrag der Grünen, sich für Tempo 30 in Lindenstruth einzusetzen. Dabei klang der Antragstext völlig harmlos: „Die Gemeindevertretung möge beschließen, dass der Gemeindevorstand bei den zuständigen Behörden die Einrichtung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h für die Ortsdurchfahrt Lindenstruth (B49) beantragt. Diese Geschwindigkeitsbegrenzung soll ganztags oder wenigstens nachts für alle Fahrzeugarten gelten.“ Eigentlich teilten alle Parteien Reiskirchens diese Position in der Vergangenheit, aber offenbar nur als Lippenbekenntnis. Denn Abstimmungsverhalten und noch mehr die Wortbeiträge vor allem von SPD-Platzhirsch Strack-Schmalor und dem FW-Fraktionschef Gerhard Albach zeigten, dass es ihnen bei allen verkehrspolitischen Entscheidungen nur darum geht, die Chancen für den Straßenneubau zu erhalten. Letztlich werden so die Anwohner*innen in Geiselhaft genommen, um sich mit dem umweltzerstörenden Großbauwerk selbst ein Denkmal zu setzen. Der politische Stillstand in der Gemeinde ist gewollt, um das Betonprojekt zu verwirklichen.
Die Doppelmoral des Lindenstruther Ortsvorstehers
Das Pikante: Gerhard Albach ist auch Ortsvorsteher in Lindenstruth. Dort tut er so, als würde er Tempo 30 unterstützen. „Der Antrag kommt von Leuten, die behaupten, der Verkehr in Lindenstruth nähme ab“, begründete er die Ablehnung des Antrags in der Gemeindevertreterversammlung. Noch deutlicher wurde Strack-Schmalor. Neben den üblichen Ausflüchten, die Gemeinde sei nicht zuständig und die Verkehrssituation in Lindenstruth „Gott sei Dank“ nicht gefährlich, beschimpfte er die antragstellenden Grünen, dass die mit ihrer Ablehnung des B49-Neubaus die belastende Verkehrssituation erst erzeugt hätten. So entstand eine merkwürdige Situation: CDU, SPD und Freie Wähler bezweifelten die Verkehrsbelastung nicht, hielten Tempo 30 im Prinzip auch für eine gute Idee, stimmten aber trotzdem dagegen, weil sie nichts unterstützen wollten, was den Straßenneubau in Frage stellen könnte. Seitens der Grünen trugen Rolf Tobisch und Renz Hornischer weitere Argumente vor wie die fehlende Querungsmöglichkeit bei der Lindenstruther Bushaltestelle, die schlecht einsehbare Ampel und Radfahrüberquerung an der Martinstraße sowie den nahen Kindergarten ein. Es half nichts: Die vier Ja-Stimmen der Grünen zum Antrag, sich bei der zuständigen Straßenverkehrsbehörde für Tempo 30 einzusetzen, reichten nicht. CDU, SPD und Freie Wähler stimmen geschlossen dagegen. Dass sich der Parlamentsvorsitzende Seipp-Wallwaey von der SPD dann auch noch störte, dass zwei grüne Gemeindevertreter im Parlament etwas sagen, illustrierte dann zusätzlich noch das generelle, provinzielle Niveau und die fehlende politische Reife in der Reiskirchener Politik. Bleibt noch festzustellen, dass auch die Grünen nicht überzeugen: Die Straßenverkehrsbehörde ist eine Einrichtung des Kreises, geführt von einem Grünen. Der könnte es einfach machen. Tut es aber auch nicht.
Foto: Geschlossen gegen den Tempo-30-Antrag – Freie Wähler im Vordergrund, CDU hinten rechts.




