
Grüner Landtagsabgeordneter Felix Martin zu Besuch bei der Lebenshilfe Gießen
Gießen – „Die Vielfalt der Lebensrealitäten von Eltern mit Behinderung und ihrer Kinder muss in Politik und Verwaltung viel stärker in den Blick genommen werden“, betonte Felix Martin (Werra-Meißner-Kreis), Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und Obmann im hessischen Ausschuss für Arbeit, Integration, Jugend & Soziales, bei seinem Besuch der „Begleiteten Elternschaft“ der Lebenshilfe Gießen. Gemeinsam mit Hanne Weise (Kreisgeschäftsführerin Grüne in Gießen), Gisela Volk (Kreistagsfraktion Grüne) und Hiltrud Hofmann (Grüne-Fraktion im LWV, Beigeordnete) informierte er sich im Gespräch mit Mitarbeitenden, Eltern und Bewohnern über das innovative Wohn- und Unterstützungsangebot.
„Unser Ziel ist es, Familien zusammenzuhalten“
Bereichsleiter Jan Hillgärtner stellte das Konzept vor: „Wir unterstützen Eltern mit einer geistigen Behinderung dabei, möglichst selbstbestimmt als Familie zu leben. Das Angebot reicht von Hilfe im Alltag und Erziehungsfragen bis zu ganz praktischer Unterstützung wie beim Einkaufen oder im Kontakt mit Behörden.“ Wichtig sei, dass die Unterstützung individuell abgestimmt werde: „Jede Familie hat ihre eigenen Stärken und Herausforderungen.“
Im offenen Austausch schilderten zwei Väter, wie sehr sie die Chance schätzen, hier mit ihren Kindern leben zu können. „Ich habe früher viele Rückschläge erlebt. Hier konnte ich endlich mit meiner Tochter gemeinsam wohnen und ihr ein Zuhause geben“, berichtete Familienvater Thorsten Kolb offen.

Herausforderungen und bürokratische Hürden
Auch die Schwierigkeiten wurden offen angesprochen. Hillgärtner: „Es gibt nach wie vor viel Misstrauen und Unsicherheit bei Jugendämtern, ob Eltern mit Behinderung ihren Kindern gerecht werden können. Häufig werden zuerst Risiken gesehen, statt Ressourcen. Dabei zeigen die Erfahrungen, dass mit der richtigen Unterstützung ein gemeinsames Familienleben möglich ist.“ Kay Brandl, ein alleinerziehender Vater von zwei Söhnen: „Ich musste für meinen Platz hier in Gießen meine Heimat verlassen. Aber die Alternative wäre gewesen, von meinem Kind getrennt zu werden. Das darf nicht sein!“
Saskia Meilinger, pädagogische Fachkraft im Team der Begleiteten Elternschaft, berichtete von den manchmal späten Reaktionen der Behörden: „Es kommt immer wieder vor, dass eine Schwangerschaft bei Menschen mit Behinderung sehr spät erkannt wird – manchmal bleibt dann kaum Zeit, angemessene Unterstützung zu organisieren. Für die Eltern ist diese Unsicherheit belastend, sie wollen einfach mit ihrem Kind zusammen sein.“
Teamarbeit und Kommunikation auf Augenhöhe
„Wir haben gelernt, dass Ehrlichkeit und klare Kommunikation entscheidend sind“, so Meilinger weiter. „Wenn wir bei einer Familie merken, dass es Schwierigkeiten gibt, sprechen wir das offen an – gemeinsam mit den Eltern. Es gibt bei uns ein Ampelsystem und regelmäßige Reflexionsgespräche. Uns ist wichtig, dass niemand Angst haben muss, dass das Jugendamt sofort das Kind wegnimmt. Das Ziel ist, Hilfe zu bieten, nicht Kontrolle.“
Felix Martin zeigte sich beeindruckt: „Viele Probleme, die hier angesprochen wurden, sind den meisten Menschen, auch Politikern, nicht bekannt. Es wird klar, wie komplex die Abstimmungen zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe sind. Am Ende muss das Ziel immer sein, Familien zu stärken und nicht auseinanderzureißen.“
Blick in die Zukunft
Im Gespräch wurde deutlich, dass das Angebot bislang fast einzigartig in Hessen ist – und der Bedarf viel größer wäre. Martina Ertel, ehemalige Bereichsleitung Beraten und Unterstützen bei der Lebenshilfe und Mit-Initiatorin des Projekts, betonte: „Wenn es dieses Projekt nicht gäbe, könnten viele Familien nicht zusammenleben. Andere Lösungen wie Mutter-Kind-Heime sind selten auf Menschen mit geistiger Behinderung eingestellt.“
Die Politik sei gefordert, nahm Martin, wie er betonte, mit nach Wiesbaden. Seine Parteikollegin Hiltrud Hofmann konstatierte: „Es braucht mehr solche Angebote, eine bessere Kooperation der Ämter und weniger Bürokratie. Die Perspektive der Eltern und ihrer Kinder muss an erster Stelle stehen.“
Bei der 2021 eröffneten „Begleitete Elternschaft“ der Lebenshilfe Gießen leben Eltern mit geistiger oder seelischer Behinderung gemeinsam mit ihren Kindern. Die Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte erfolgt individuell, bis zu sieben Tage die Woche, mit Nachtbereitschaft im Notfall. Die Finanzierung tragen LWV und Jugendamt. Aktuell begleitet das Angebot sechs Familien. Weitere Informationen auf www.lebenshilfe-giessen.de.




