Hessische Städte radeln dem Land davon

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Der Lahnradweg ist kurz vor der Gießener Stadtgrenze zu schmal.

Drei hessische Städte sind heute beim deutschlandweiten ADFC-Fahrradklima-Test in Berlin ausgezeichnet worden: Frankfurt am Main steigt mit der Durchschnittsnote 3,61 auf Platz 2 in seiner Städteklasse auf. Bei Großstädten unter 200.000 Einwohnenden wird Darmstadt mit der Note 3,58 Dritter, und Baunatal verteidigt mit der Note 2,47 in seiner Kategorie den ersten Platz. Abseits der großen Städte herrscht etwas Licht, vor allem aber sehr viel Schatten in Hessen: Von den 111 Kommunen in der aktuellen Auswertung waren 89 auch vor zwei Jahren dabei. 58 erzielten 2022 eine schlechtere Note als 2020, nur 22 konnten sich verbessern. In Hessen hatten sich 18.500 Radfahrende im Herbst 2022 an der Befragung beteiligt, bundesweit waren es 245.000.

Frankfurt am Main verbessert sich um eine Zehntelnote, überholt Hannover und belegt bundesweit den zweiten Platz knapp hinter Bremen. Die hessische Großstadt profitiert von der guten Fahrradförderung in jüngster Zeit, wodurch auch das Stadtzentrum besser erreichbar geworden ist. Hier verbessert sich Frankfurt ebenso wie bei der Wegweisung (von 2,9 auf 2,4). ADFC-Landesvorsitzender Ansgar Hegerfeld: „Die Umgestaltung von Fahrstreifen zu teils geschützten Radwegen in Frankfurt verändert allmählich die sonst eher kritische Bewertung der Radwegbreiten: Hier ist eine positive Entwicklung festzustellen, die honoriert wird. Fahrraddiebstähle und verkehrsgefährdendes Falschparken trüben aber weiter das Fahrradklima.“

In Darmstadt hat sich die Bewertung in der überwiegenden Anzahl der Einzelfragen – wenn auch nur geringfügig – verbessert. Dabei schneidet der Bereich Infrastruktur Radverkehrsnetz (2,8) am besten ab. „Das spiegelt Darmstadts Anstrengungen für den Radverkehr in den letzten Jahren wider, die vor allem durch Radentscheid und ADFC angestoßen wurden. Allerdings weisen die Kommentare in der Befragung zu Lücken im Radverkehrsnetz darauf hin, dass auch in den kommenden Jahren noch viel Arbeit zu leisten ist“, erläutert Helga Hofmann, stellvertretende Vorsitzende des ADFC Hessen.

Wiesbaden gelingt es, die vor zwei Jahren stark verbesserte Note zu bestätigen, verharrt aber bei einer glanzlosen 3,9. Auch Kassel (4,2) und Offenbach (3,7) stagnieren. Die Unistädte Gießen und Marburg (jeweils 3,7) schneiden passabel ab. Fulda stagniert bei einer mäßigen 4,2. Bad Homburg (4,2), Hanau (4,1) Rüsselsheim (3,8) und Wetzlar (4,4) verschlechtern sich um ein bis zwei Zehntel Notenpunkte.

Auf den politischen Willen im Rathaus kommt es an

Bei den kleineren Kommunen mit 20.000 bis 50.000 Einwohnenden siegt zum dritten Mal in Folge Baunatal. „Hier passt Vieles gut zusammen“, erläutert Oliver Moschner-Schweder, Vorsitzender des ADFC Limburg-Weilburg: „Baunatal weist durch die Nähe zu Kassel ein hohes Radverkehrspotenzial auf, hat dabei nicht die räumlichen Restriktionen einer Großstadt und gleichzeitig ein solides finanzielles Fundament. Am wichtigsten ist aber der politische Wille der handelnden Personen im Rathaus – diesen Willen, den Radverkehr zu fördern, spürt man in Baunatal“, so Moschner-Schweder.

Relativ gut schneiden auch kleinere Städte und Gemeinden im Frankfurter Umland ab: Eschborn (3,7), Karben (3,6), Mörfelden-Walldorf (3,4), Oberursel (3,7) oder Dreieich (3,7). Dort fördern die Kommunen seit längerer Zeit den Radverkehr aktiv, oft in produktiver Zusammenarbeit mit dem ADFC.

Umgekehrt gibt es zahlreiche Kommunen im ländlichen Raum, in denen Radfahren allenfalls als Freizeitaktivität eine Rolle spielt. Negativbeispiele finden sich in Limburg (Durchschnittsnote 4,26), Büdingen (4,42) Bad Hersfeld (4,54) und Künzell (4,38). Bei den Kommunen unter 20.000 Einwohnenden liegen die beiden schlechtesten bewerteten Orte im Hochtaunuskreis: Königstein (4,51) und Usingen (4,56).

In der Zusatzbefragung zum ländlichen Raum beim Fahrradklima-Test 2022 sollten die Teilnehmenden bewerten, wie gut die Nachbarorte per Rad zu erreichen sind. Hier gab es vor allem für kleinere Kommunen, die weit von urbanen Zentren entfernt sind, schlechte Noten: Beispiele sind Homberg Efze (4,68) Glashütten (4,92) und Grävenwiesbach (5,24). Auch die Möglichkeit zur eigenständigen Radmobilität von Kindern und Jugendlichen erfährt oft eine negative Bewertung, etwa in Hünstetten (4,54), Schmitten (4,80) oder Reiskirchen (4,93).

Tempo 30 würde das Fahrradklima „auf Knopfdruck“ verbessern

Für Kinder und Jugendliche sind im ländlichen Raum aber nicht nur fehlende Radwege das Problem, berichtet ADFC-Landesvorstandsmitglied Silke Westermeier: „Viele Teilnehmende der Befragung bemängelten in den Kommentaren die Verkehrssicherheit für Radfahrende und sprachen sich für Tempo 30 innerorts aus. Besonders für Kinder und die Schulweg- sicherheit wäre das ein großer Fortschritt. Tempo 30 verbessert praktisch auf Knopfdruck das Fahrradklima, verhindert Unfälle und bietet die Chance auf eine Verkehrswende mit Rad fahrenden Schüler:innen statt der gefährlichen Dominanz von Auto-Elterntaxis.“

„Der Bund muss die Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass die Kommunen endlich die Möglichkeit bekommen, um Tempo 30 überall dort anordnen zu können, wo sie die Verkehrs- sicherheit und die Lebensqualität vor Ort verbessern wollen. Schon 640 Kommunen bundesweit setzen sich dafür ein – unterstützt vom Deutschen Städtetag. Leider ist das Bundesverkehrsministerium auf diesem Ohr bisher völlig taub“, ergänzt Landesvorsitzender Ansgar Hegerfeld.

Aber auch das Land sieht der ADFC Hessen in der Pflicht: „Oft erhalten Kommunen eine schlechte Bewertung für eine fehlende überörtliche Radverbindung, ohne dass sie etwas dafür können, weil an der Landesstraße ein Radweg fehlt. Hierfür ist aber das Land zuständig, das in Hessen nur 11 Prozent der Landesstraßen mit einem Radweg ausgestattet hat und damit bundesweit auf dem drittletzten Platz liegt“, so die Kritik von Oliver Moschner- Schweder.

100 Kilometer neue Radwege an Landesstraßen – jedes Jahr

Der ADFC Hessen fordert daher vom Land Hessen, ab sofort jährlich 100 Kilometer Radwege an Landesstraßen zu bauen. In den vergangenen neun Jahren wuchs das hessische Radwegenetz an Landesstraßen nur um 27 Kilometer, obwohl Minister Al-Wazir 2016 angekündigt hatte, bis 2022 rund 100 Kilometer Radwege zu bauen.

Helga Hofmann ermutigte alle Kommunen, dem Wunsch der Bürger:innen nach einem besseren Fahrradklima aufgeschlossen zu begegnen: „Manchmal können niedrigschwellige Verbesserungen bereits viel bewirken: Die Öffnung einer Einbahnstraße, eine sichere Führung um Baustellen herum, eine strengere Kontrolle von Falschparkern. Wenn es einer Kommune an Ideen zur Verbesserung fehlt, liegt dies oft daran, dass sie noch nicht einmal Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität des Landes Hessen sind, die unter anderem auch über Fördermöglichkeiten für Radverkehrsmaßnahmen informiert.“

Weitere Informationen zum Hintergrund des ADFC-Fahrradklima-Test 2022

Der Fahrradklima-Test ist eine nicht repräsentative Befragung von ADFC und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, an der sich im Herbst 2022 insgesamt 245.000 Menschen bundesweit beteiligt haben. Dabei wurden 1.114 Städte in sechs verschiedenen Größenklassen (> 0,5 Mio. EW / 200.000-500.000 EW / 100.000-200.000 EW / 50.000-100.000 EW/ 20.000-50.000 EW / < 20.000 EW) bewertet. Die Umfrage wurde insgesamt zum 10. Mal durchgeführt. Seit 2012 findet sie zweijährlich statt. Die vollständigen Ergebnisse zum Fahrradklima-Test online unter: www.fahrradklima-test.adfc.de

Über den ADFC Hessen

Dem 1986 gegründeten ADFC Hessen gehören rund 19.800 Mitglieder an. Der Landesverband vertritt die Interessen der Radfahrer:innen in Hessen gegenüber der Landespolitik, gehört dem Lenkungskreis der Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität Hessen (AGNH) an und betreibt darüber hinaus vielfältige Aktivitäten: So berät der ADFC Hessen das Land Hessen bei der Wegweisung der Hessischen Radfernwege, zertifiziert Unternehmen und Kommunen als fahrradfreundliche Arbeitgeber, unterstützt das Landesprojekt bike + business, zertifiziert fahrradfreundliche Unterkünfte (Bett+Bike) und bietet Radfahrkurse für Erwachsene an. In nahezu jedem hessischen Landkreis gibt es einen Kreisverband, in vielen Kommunen auch örtliche ADFC-Gliederungen. Dort kümmern sich die Aktiven um Belange des Radverkehrs, organisieren Radtouren und bieten verschiedene Serviceleistungen wie Fahrradcodierungen an.