Gießen | Die Ängste und Neurosen, die wahrscheinlich die meisten Menschen haben, äußern sich in ganz unterschiedlicher Form. Und jeder geht ganz verschieden damit um, der eine lässt es raus, der andere versteckt sich hinter Gleichgültigkeit, wieder ein anderer explodiert irgendwann, in einer scheinbar ganz banalen Situation. Wer kennt das nicht?!
Genau darum geht es in dem Stück „Willkommen Zuhause – die Minidramen des Alltags“, dass am letzten Freitag auf der Kleinen Bühne Gießen Premiere feierte.
Die Regisseurin Aldona Watolla von der Kleinen Bühne Gießen hat diese Thematik in ein Stück verpackt, das amüsanter kaum hätte sein können und das überdies zum Nachdenken anregt, dessen Schauspieler nicht besser hätten darstellen können, mit welchen kleinen Dramen man sich im Alltag auseinander setzen muss und auf welch unterschiedliche Arten das ein jeder macht.
Schauplatz des Stücks: Nicht etwa zuhause, sondern in einem Möbelhaus, indem die Protagonisten in verschiedenen Situationen mit Problemen konfrontiert werden, die sie teilweise aus der Bahn werfen. Zum Beispiel „Die Frau mit den Tassen im Schrank“, zauberhaft
gespielt von Annette Kroiss, die beim Kauf einer Teetasse verzweifelt, nicht weiß, ob eine oder zwei, sie sei ja alleine, wer braucht da schon zwei Tassen? Doch was tun, wenn man jemanden zum Tee einladen will? Sie verliert sich in diversen Versionen dieser Situation, flirtet, schäkert, schreit herum. Und kommt von der Frage, wie viele Tassen sie braucht, zu der Frage, ob sie überhaupt zufrieden mit sich ist.
Oder „Der Durchschnitt vom Durchschnitt“, fabelhaft dargestellt von Jan Schirmund, der sich selber als „überraschungsfrei und durchgestylt“ beschreibt und sich mit einer Möbelserie vergleicht. Der Durschschnitts- Mensch zum Durchschnitts- Möbelstück sozusagen. Mit dem einzigen Ziel, sich endlich einmal abzuheben, sich nicht mehr manipulieren und einsortieren zu lassen.
„Die Frau mit der OP- Haube“, wunderbar gespielt von Gabriele Minninger, die nur sie selbst sein will, aber gar nicht so genau weiß, wer sie eigentlich ist. „Die Frau aus der Lampenabteilung“, einfühlsam verkörpert von Susanne Gellert, die nie Zeit hat, weil alles durchgeplant ist, die gerne mal spontan wäre, aber auch dafür keine Zeit hat, die am Ende ihr Leben umtauschen will, „aber diesmal bitte gegen das Richtige.“ „Dörtes Freund“, hervorragend
gespielt von Anthony Krauskopf, der sich erst zuhause fühlen kann, wenn Dörte weg ist, dessen perfektes Wochenende darin besteht, die Füße hochzulegen und fernzusehen, ohne sich vor seiner Freundin rechtfertigen zu müssen. „Der Mann mit der Tasche“, überzeugend gespielt von Christian Domke, der, nach außen hin ganz ruhig und gelassen, plötzlich völlig ausflippt, weil er auf der Straße angerempelt wird. Und „Die Frau, die keiner fragt“, großartig dargestellt von Stephanie Hoy, die alle Menschen grob und unsensibel findet, weil sie eben von niemandem nach ihrer Meinung gefragt wird. Die beim Einkaufen anfängt zu weinen, natürlich ganz leise, damit sie niemanden stört, und einem Mann, der ihr im Weg steht, eine Konservendose auf den Kopf schlägt, weil die Wut sie übermannt. Sie alle können sich nicht zuhause fühlen, können sich nicht entspannen, weil es immer weiter geht, weil immer wieder etwas Neues kommt. Sie alle reiben sich auf, weil sie sich missverstanden fühlen, nicht kommunizieren und ihre eigenen und auch fremde Handlungen falsch interpretieren.
Und mitten in diesem Sammelsurium der Neurosen und Ängste sitzt das Publikum am vergangenen Freitag. Tatsächlich mittendrin, weil die Schauspieler nicht auf der Bühne bleiben,
sondern durch den Zuschauerraum wandern, das Publikum mit einbeziehen, Fragen stellen, einzelne Zuschauer ansprechen und anschreien, Kontakt herstellen und damit jegliche Distanz nehmen, die zwischen dem Stück und den Zuschauern liegen. Genau das war das Ziel von Aldona Watolla und ihrem Ensemble: Der Zuschauer soll keine Möglichkeit haben, sich zu entziehen, genau so wenig, wie man sich dem echten Leben entziehen kann. So wird das Publikum bei diesem Stück oft mit Fragen konfrontiert, die sich die meisten wahrscheinlich schon einmal selber gestellt haben. Der ein oder andere kann sich in den Charakteren selber wieder finden, kann nachvollziehen, was sie zu ihren Handlungen und Aussagen treibt. Man erkennt Situationen aus dem eigenen Leben und findet dort auf der Bühne vielleicht ein kleines Stück des eigenen Alltags wieder.
Die Zuschauer sind begeistert, es wird herzhaft und laut gelacht, zwischendurch macht sich auch erstauntes, vielleicht betroffenes Schweigen breit. „Ein sehr lustiges Stück, einfach schön!“ sagt Martina Weber, die unter den Zuschauern ist. „Und was besonders schön ist: Man merkt, wie viel Freude die Schauspieler haben!“ Was sicher auch daran liegt, dass das Stück aus der Improvisation heraus entstanden ist, wie Aldona Watolla verrät. Gerade das lässt die Charaktere wunderbar echt, lebendig und ehrlich erscheinen. Und auch Zuschauerin Muriel Sanchez Gellert ist begeistert: „Es hat mir sehr gut gefallen und außerdem hat es mich zum Nachdenken angeregt.“
Was am Ende bleibt, ist die Erkenntnis, dass „zuhause“ kein Ort ist, an dem man sich aufhält, sondern ein Zustand, den man hoffentlich irgendwann erreicht. Vielleicht tatsächlich im eigenenen Zuhause, wenn die Freundin nicht da ist, oder eben zwischen fremden Menschen in einem Möbelhaus.