Gießen | Die Einrichtung von Fahrradstraßen auf Anlagenring und zentralen Achsen der Gießener Innenstadt einschließlich der dortigen Reduzierung des Parksuchverkehrs ist ein hoffnungsvoller Beginn, der erstmals seit Jahrzehnten das Kleinklein Gießener Stadtplanung überwindet. Für die Umgestaltung der Stadt zu einer City mit hoher Lebens- und Aufenthaltsqualität ist dieser Schritt wichtig, darf aber dabei nicht bleiben. Damit Wohnen, Bummeln, Kultur, Einkaufen und Genießen attraktiver werden, bedarf es weiterer mutiger Schritte. Der integrierte Verkehrswendeplan, den Gießener Verkehrswende-Initiativen vor knapp zwei Jahren vorgelegt haben und für deren Umsetzung sie seitdem mit vielen Aktionen und zwei Bürger*innenanträgen werben, enthält Vorschläge für alle drei Formen klima- und umweltgerechter Mobilität, die die Lebensqualität für alle Menschen und Einrichtungen in Gießen steigern würden. „Zu Fuß, auf dem Fahrrad und mit einem leistungsfähigen ÖPNV, der zudem gratis nutzbar ist: Das sind die Arten von Mobilität, die eine moderne Urbanität ausmachen“, heißt es aus den miteinander kooperierenden Gruppen. „Jede der drei ist schon allein leistungsfähiger als der PKW-Verkehr. Autos verbrauchen pro nach Gießen kommender Person am meisten Platz und Ressourcen. Sie belasten zudem alle anderen Menschen und die Umwelt.“
Neben den zurzeit intensiv diskutierten Fahrradstraßen fordern viele Verkehrswende-Aktive erweiterte, barrierefreie Fußgänger*innenzonen in der Innenstadt und um sensible Gebäude wie Kindergärten und Schulen. Zudem solle Gießen schnellstmöglich mit der Planung und Vorbereitung für ein Straßenbahnnetz beginnen, welches in der Variante der RegioTram auch das Umland anbindet. „Straßenbahnen sind das leistungsstärkste Verkehrsmittel. Wer will, dass Menschen in die Innenstadt kommen, darf nicht auf Autos setzen, sondern sollte unsere Idee der RegioTram unterstützen.“ In Verbindung mit dem Nulltarif, also der Abschaffung von Fahrscheinen, mit passenden Bus-Zubringerlinien zu und Fahrradabstellanlagen bzw. Leihräder an den Haltestellen würde das optimale Mobilitätsangebot für alle Menschen in und um Gießen entstehen. Das wäre nicht nur umweltschonend, sondern ein Riesengewinn für alle Wohnenden, Geschäfte, Kultur und sonstige Aktivitäten in der Innenstadt, für Universitäten, Schulen und die Menschen, die mobil sein wollen oder müssen. Wenn Geschäftsinhaber*innen in Gießen den ehemaligen Karstadt-Chef mit seinem Satz „Funktioniert die Stadt, dann funktioniert der Handel“ zitieren und auf das Vorbild Kopenhagen verweisen, sollten sie die Ideen des dortigen Chefplaners Jan Gehl auch ernst nehmen: „Eine Stadt ist nach meiner Definition dann lebenswert, wenn sie das menschliche Maß respektiert. Wenn sie also nicht im Tempo des Automobils, sondern in jenem der Fußgänger und Fahrradfahrer tickt. Wenn sich auf ihren überschaubaren Plätzen und Gassen wieder Menschen begegnen können. Darin besteht schließlich die Idee einer Stadt.“ Die Gießener Verkehrswende-Aktiven sind überzeugt, dass ihre Pläne, wenn sie als Gesamtheit umgesetzt werden, für alle in Gießen riesige Vorteile bringen. Das würden Städte beweisen, die den Autoverkehr verdrängt haben, z.B. die spanische Stadt Pontevedra, die ähnlich groß wie Gießen sei.
Um für diese Ideen und den Einstieg in die Verkehrswende durch Einrichtung der Fahrradstraßen zu werben, rufen die Verkehrswende-Initiativen erneut zu Fahrraddemos um den Anlagenring auf. Die nächste startet Freitag, 26.2. um 16 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz. Eine weitere soll am Tag der Entscheidung vom Berliner Platz in den Stadtteil Allendorf führen, wo die Stadtverordneten tagen werden. „Es geht uns auch darum, deutlich zu machen, dass wir nicht nur Beschlüsse, sondern auch Taten wollen – nicht so wie der Klimabeschluss von 1994, wo die Stadt schon mal eine deutliche CO2-Reduktion beschlossen hat, aber nichts passierte!“
Ausgewählte Hintergrundinfos aus der Seite innenstadt.siehe.website:
Aus "In dieser spanischen Stadt fahren keine Autos!", auf: Travelbook am 7.4.2019
Eine Stadt ohne Autos – das muss keine Wunschvorstellung bleiben. In der Provinzhauptstadt Pontevedra im Nordwesten Spaniens kommen die Menschen seit 20 Jahren fast immer ohne Wagen aus. 1999 wurde der Autoverkehr dort weitgehend aus der Innenstadt verbannt.
Bewohner sprechen von einem „Paradies“. Besucher wie der Journalist Stephen Burgen vom bri-tischen „Guardian“ stellen verwundert fest, dass die Menschen in der galicischen Stadt auf den Straßen „nicht schreien“ (müssen), dass ungewöhnlich viel miteinander geredet und gelacht wird und dass man „das Zwitschern der Vögel inmitten der Kamelien“ und „das Klirren der Löffel in den Kaffeetassen“ hört. „Bei uns ist der Fußgänger König“, meint Bürgermeister Miguel Anxo Fernández Lores im Interview stolz. ...
Jene Ladenbesitzer, die anfangs noch in relativ großer Zahl protestiert und geschimpft und eine Senkung ihrer Einnahmen befürchtet hatten, reiben sich heute die Hände. Dazu gehört Miguel Lago. Er sei sehr skeptisch gewesen, räumte Lago gegenüber der Zeitung „El País“ ein. Inzwi-schen wisse er aber: „Wichtig ist vor allem, wie viele Menschen zu Fuß an deinem Laden vorbei-gehen.“ In kaum einer anderen Stadt Spaniens entstanden am Stadtrand und in den Vororten so wenige großflächige Einkaufszentren wie hier.
Die Menschen in Pontevedra seien glücklicher und gesünder als vor 20 Jahren, versichert Bür-germeister Fernández Lores. „Es ist offensichtlich, dass man in einer Umwelt mit weniger Streß, Verschmutzung, Aggressivität und Verkehrsgewalt mehr vom Leben hat und gesünder lebt.“ ...
Fernández Lores ruht sich derweil auf den Lorbeeren nicht aus. Es gebe immer neue Herausfor-derungen und Ziele. „Wir sind gerade dabei, das Modell in die gesamte Provinz Pontevedra, die 900.000 Einwohner hat, zu exportieren“, erzählte er. Außerdem würden in seiner Stadt ständig neue Straßen von Autos befreit. „Der Prozess der Stadtverbesserung geht nie zu Ende.“
• SWR-Beitrag: https://www.swr.de/wissen/zulaut/autofreie-innenstadt-pontevedra-spanien-weniger-laerm,pontevedra-autofreie-city-kein-laerm-100.html
• Geo-Artikel: https://www.geo.de/reisen/21316-rtkl-pontevedra-spanien-das-fussgaengerparadies-am-jakobsweg
• Auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Pontevedra
• Artikel in der Süddeutschen Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/pontevedra-fussgaenger-autos-1.4259542
Viele Argumente und positive Beispiele auch im offenen Brief des Radentscheid Frankfurt an die dortige IHK: https://www.radentscheid-frankfurt.de/2019/11/offener-brief-an-die-industrie-und-handelskammer-sowie-die-handwerkskammer-frankfurt-radverkehr-und-wirtschaft-gehoeren-zusammen/