Gießen | Vor etlichen Jahren gewann ich in einem Preisrätsel einer Werbezeitschrift des deutschen Buchhandels einen Reisegutschein von 1.000 Euro zur beliebigen Verwendung. Die Wandertouren auf Madeira waren alle ausgebucht und ich entschied mich für eine „Retschnoj Kruiß“, eine Flußkreuzfahrt von Moskau nach St.Petersburg. Eine Kreuzfahrt war das ja eigentlich nicht, denn es ging immer gerade aus und nirgends hin und her. Denn ich buchte die kürzeste Variante, ohne den Abstecher in den sog. Goldenen Ring am Wolga-Knie beim Rybinsker Stausee. Die Zusatztage mit Führungen und Besichtigungen in Moskau und St.Petersburg erspare ich mir auch hier zu schildern. Wäre zu umfangreich.
Zudem verschwand meine Kamera beim Kofferpacken im Nirgendwo und im Flugzeug stellte ich fest, daß ich sie nicht dabei hatte, aber jede Menge Filme. Im Kaufhaus GUM am Roten Platz in Moskau lief ich zwar an jeder Menge Geschäfte internationaler Juweliere und Modedesigner vorbei, aber an keinem Fotogeschäft mit Billigkameras. Viel Zeit hatte ich ja nicht, denn ich mußte auch noch das stille Örtchen aufsuchen. Bezahlen mußte ich im Vorhinein und die Toillettenfrau nahm entgegen meiner bisherigen Erfahrungen in dem ehemaligen Ostblock keine Euro entgegen. Sie bestand auf Bezahlung in Rubel. Ein Mitreisender half mir aus der Patsche.
Das gebuchte Schiff hieß „Lenin“, gehörte interessanterweise aber der Reederei „Orthodox Cruise“, die wiederum der Orthodoxen Kirche gehörte. Das Schiff war eines von insgesamt 27 der sog. „Dmitriy-Furmanov-Klasse“, welche auf der VEB Elbewerft Boizenburg (DDR) von 1983 bis 1991 hergestellt wurden. Nach Fertigstellung des Rohbaus wurden bei ihnen die obersten beiden Decks wieder abgetrennt, damit sie und das Schiff unter den Elbbrücken in Hamburg hindurch weiter nach Wismar geschleppt werden konnten, wo sie innen und außen fertiggestellt wurden. Die Schiffe hatten drei Propeller und drei Dieselmotoren mit Turbolader mit je 3000 PS. Höchstgeschwindigkeit 25 kmh. 129,1 m lang und 16,7 m breit.
Die Schiffsreise startete am Nordkanalhafen des Moskau-Wolga-Kanals. Dessen Gebäude wurden im sog. Zuckerbäckerstil 1937 eröffnet. Der Kanal diente nicht nur der Belieferung Moskaus mit Baumaterialien und Energiestoffen während der Industrialisierung, sondern auch der Sicherung der Trinkwasserversorgung, da Moskau in den 1930-er-Jahren einen gewaltigen Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen hatte. Bei der Fahrt aus Moskau hinaus passierte das Schiff jede Menge neu gebauter Villen mit weitläufigen Grünanlagen, gelegentlich sah man bewaffnete Sicherheitskräfte drum rum patrouillieren.
Der erste Halt war dann Uglitsch, bereits nach Einmündung des Moskau-Wolga-Kanals in die Wolga. Hier wurde der dortige „Kreml“, eine Anlage mit Kloster und mehreren Kirchen besichtigt. Hierher wurde u.a. der Sohn Iwan des Schrecklichen samt seiner Mutter verbannt. Beim Anleger der „Kreuzfahrtschiffe“ wurden Verkaufsstände mit Souvenirs etc. aufgebaut und es gelang mir da, eine japanische Billigkamera von einem Studentenpärchen zu erstehen. Allerdings paßten meine 21-er-Filme nicht dazu und die meisten Bilder fortan waren überbelichtet.
Die Wolga floß bis hier in nordöstlicher Richtung, biegt aber am Rybinsker Stausee (identisch mit Zusammenfluß von Wolga und Scheksna) ab nach Südosten. Unsere Reise ging über den Stausee nach Norden bis Tcherepovez am Ausfluß/Einfluß. Die Stadt ist ein Zentrum der russischen Metallindustrie. Ab hier geht es dann in die untere und obere Scheksna über den Weißen See bis zum Onegasee. Die Strecke vom Wolgaknie bis zum Onegasee wurde in den 1930-er Jahren einschl.
des Rybinsker Stausees kanalmäßig ausgebaut und schiffbar gemacht, um die Verbindung zwischen Wolga und Ostsee herzustellen. Im gleichen Zug wurde ein Schiffstyp entwickelt (so ein Schiffstyp "Amur"), der auf allen Flüssen und Kanälen der Sowjetunion fahren konnte, durch alle Schleusen paßte, aber auch auf der Ostsee und dem Schwarzen Meer seetauglich war. Wie auf dem Moskau-Wolga-Kanal kommt man im Wolga-Baltik-Kanalsystem immer wieder an gefluteten alten Dörfern und Kirchen vorbei. Bekannt ist der mehrstöckige Glockenturm von Kaljasino, der aus dem Wasser ragt.
Bei Goritsy ist wieder ein Halt zur Besichtigung des Kirillo-Beroselski-Klosters, einer ehem. Klosterfestung. Eine Mönchsgruppe bot Kirchengesänge dar – die orthodoxe Kirche kennt keine Orgel oder andere Musik, nur (Sprech-)Gesang in der Kirche.
Nach Einfahrt in den Onegasee, dem zweitgrößten europäischen See nach dem Ladogasee, sahen wir noch Eisschollen treiben. Unsere Fahrt war die zweite der Saison Ende Mai. Das Ziel im Onegasee ist die berühmte Museumsinsel Kishi, auf der verschiedene Holzbauten um ein paar dort historisch bestehende gesammelt wurden. Die Kirchen und Kapellen sind nur mit Holzdübeln zusammengefügt worden, es gibt keine Nägel oder Schrauben. Am westlichen Ufer des Ladogasees liegt Petrosawodsk, die Hauptstadt der karelischen Föderationsrepublik. Von hier sieht man gelegentlich „Raketas“, Tragflügelboote über den Onegasee rasen.
Die Verbindung zwischen Onegasee und Ladogasee ist der Fluß Swir, an dem u.a. eine Art Vergnügungspark bei Mandrogi liegt, wo es nochmal einen Aufenthalt gab. Der Swir ist ebenfalls teilweise zum Kanal ausgebaut oder der Kanal daneben gebaut, immer wieder mit Schleusen versehen. Der zugefrorene Ladogasee war in der Zeit der Belagerung Leningrads (St.Petersburg) durch die faschistische Wehrmacht von 1941 bis 1944 die einzige Versorgungsmöglichkeit der Bevölkerung. Die Belagerung erforderte ca. 1,1 Mio Todesopfer.
Über den Ladogasee drehte der Kapitän erstmals auf Vollgas. Auf dem ganzen Kanalsystem gilt eine Geschwindigkeitsbeschränkung von ca. 8 kmh, um die Böschungen vor dem Schwell zu schonen. Hier stand auch um Mitternacht noch die Sonne überm Horizont, dunkel war es in dieser Nacht nur etwa drei Stunden. Die „weißen Nächte“ von Petersburg waren nicht mehr weit. Zum Sonnenaufgang liefen wir denn auch vom Ladogasee kommend über die Newa im Fluß-Kanal-Hafen in der Stadt ein.
Geschwommen sind wir etwa 1.400 km. Die Eisenbahn fährt zwischen
Moskau und St.Petersburg nicht ganz 600 km.Land und Leute, wie man so sagt, lernte man bei dieser Reise kaum kennen, zumal das Schiff ausschließlich mit deutschen Touristen (und einer Gruppe Schweizer, die der dortigen „Partei der Arbeit“ angehörten), belegt war. Das Servicepersonal, ausgesprochen freundlich und zuvorkommend, bestand, soweit es mit den Passagieren zu tun hatte, mehrheitlich aus Student*innen, alle deutschsprechend. Auch Auszubildende waren wohl dabei: da wurde einmal mit dem Zollstock nachgemessen, wie weit die Tischdecke im Restaurant über die Kante hing. Ich hatte eine Doppelkabine zur Einzelnutzung und konnte mich bei Bedarf ungestört zurückziehen. Allerdings liefen vor dem Fenster oft Jogger vorbei. Man konnte fast auch jedem Deck bequem rund um das Schiff gehen. Die Dusche fand ich nicht gleich auf Anhieb: Der Wasserhahn des Waschbeckens war samt dem Zuflußschlauch nach oben zu ziehen und an der Decke aufzuhängen. Der Bordarzt hieß Gorbatschow und war gegflls. zu Reiseende cash zu bezahlen. Der Schiffsingenieur hieß - wie mein früherer Chef in der Hamburger "Schwarzmeer und Ostsee Versicherungs AG" und hätte sein Zwillingsbruder sein können. Habe aber beide nicht gefragt. Zu essen gab es wahlweise landestypische oder internationale Küche.
Das angebotene Bier aus einer Brauerei in St.Petersburg schmeckte ausgezeichnet.:-)