Gießen | Der Strom an Flüchtlingen, die nach Gießen kommen, reißt nicht ab. Damit einhergehend steigt auch der Gesprächsbedarf bei den Anwohnern Gießens und den umliegenden Gemeinden. Sorgen, Ängste und Unsicherheiten scheinen von Tag zu Tag größer zu werden und kaum jemand sieht seine Fragen ausreichend beantwortet. Aus diesem Grund lud die CDU am vergangenen Mittwoch zu einem Informationsabend ein – neben Landratskandidat Gregor Verhoff und Anja Helmchen, die für die CDU bei den Wahlen zur Oberbürgermeisterin kandidiert, stand vor allem Regierungspräsident Dr. Lars Wittek im Mittelpunkt der Veranstaltung, um Fragen zu beantworten und in einem kurzen Vortrag über die Abläufe in der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung zu erläutern.
An diesem Abend solle es nur darum gehen, die Situation in und um Gießen zu besprechen, klärte Verhoff direkt zu Beginn auf, trotzdem weitete sich die Diskussion bald über politische Entscheidungen auf Bundesebene bis hin zur internationalen Politik aus. Das Thema bringt es sicher mit sich, dass grundlegende Fragen aufgeworfen werden, Fragen, die sicher gestellt werden müssen, aber eben nicht
in diesem Rahmen. Bundesweit wird in diesem Jahr mit Asylanträgen von insgesamt 450 000 Flüchtlingen gerechnet, eine Situation, die alle Bundesländer überfordern dürfte, aber eben auch eine Thematik, die auf Bundesebene diskutiert werden muss und nicht im Rahmen eines städtischen Infoabends geklärt werden kann.
Nur in den 1990er Jahren waren die Zahlen noch höher als heute, doch damals gab es im Raum Gießen mehr Platz zur Unterbringung der Geflüchteten. Platz, der jetzt nicht mehr zur Verfügung steht – was Probleme mit sich bringt. Zahlreiche Polizei- und Feuerwehreinsätze verunsichern und ärgern die Anwohner, sind aber wahrscheinlich unvermeidbar, wenn man bedenkt, auf welch engem Raum so viele Menschen zusammen leben, Menschen mit den unterschiedlichsten Religionen, Ethnien und Traumata. Dr. Lars Wittek erklärte, in den nächsten Wochen und Monaten werde neuer Platz für 1600 Menschen geschaffen, um den Standort Gießen zu entlasten, jedoch reiße der Strom an Flüchtlingen nicht ab, solange die Lage in vielen Ländern der Welt ihre Bewohner dazu zwingt, zu flüchten, weil sie dort nicht mehr sicher sind und ihr Leben gefährdet ist – und so werden auch diese 1600 neuen Plätze bald belegt sein. „Es ist jedoch unsere moralische und
auch rechtliche Pflicht, diese Menschen aufzunehmen und ihnen zu helfen!“ so Wittek. „Diese Geflüchteten sind zum Teil Menschen mit Monate alten Schussverletzungen, mit Wochen alten Knochenbrüchen, Opfer sexueller Gewalt und Ausbeutung.“ Knochenbrüche, die ihnen von Schleusern auf Flüchtlingsbooten zugefügt wurden, weil sie zusätzlich gefordertes Geld für die Überfahrt nicht zahlen konnten und die Alternative gewesen wäre, im Mittelmeer zu ertrinken. Ein Schicksal, wie es in der vergangenen Zeit so viele Menschen erleiden mussten, die versucht haben, sich und ihre Familien in Sicherheit zu bringen. Niemand entscheide leichtfertig, seine Heimat und seine sozialen Kontakte hinter sich zu lassen und sich auf eine so riskante Reise zu begeben, stellte Wittek klar. All diese Menschen haben schlicht und ergreifend keine andere Möglichkeit, als zu flüchten und kommen in der Hoffnung auf Sicherheit und eine bessere Zukunft nach Europa.
Was sie hier erwartet, wissen sie nicht. Ein fremdes Land, eine fremde Sprache und eine fremde Kultur. Das sollten sich diejenigen bewusst machen, die sich durch große Gruppen junger Männer in der Innenstadt verunsichert fühlen oder sich fragen, warum fast jeder Geflüchtete ein Smartphone hat: Hier handelt es sich weder um Drohgebärden noch um Luxusgüter, sondern einfach um das eigene Sicherheitsgefühl, den Kontakt zur eigenen Herkunft, das letzte Stück, das diese Menschen noch mit ihrer Heimat verbindet.
Vielleicht sollten sich das auch die zahlreichen Parteimitglieder der Alternative für Deutschland bewusst machen, die an diesem Abend in Klein- Linden scheinbar nur zu dem Zweck anwesend waren, schlechte Stimmung gegen die Flüchtlinge zu machen, frei nach dem Motto: "Helfen? Natürlich- aber bitte nicht hier bei uns." Man muss sich doch ernsthaft fragen, was in jemandem vorgeht, der selber einst nach Deutschland flüchtete, selber in der Erstaufnahmeeinrichtung ankam und schließlich hier sesshaft wurde, und dann als AfD- Mitglied kritisiert, es wären zu viele Flüchtlinge hier. Man sollte auch die Aussage aus dem Publikum hinterfragen, man wäre nicht ausländerfeindlich, nur fremdenfeindlich. Diese Fremdenfeindlichkeit scheint sich jedoch nur gegen die Bewohner der HEAE zu richten, nicht gegen die über 30 000 Studenten, die ja auch „Fremde“ in Gießen sind. Kaum durchdachte Argumente und Menschen, die sich scheinbar nicht umstimmen lassen wollten, prägten an diesem Abend das Bild - Die meisten aus den Reihen der AfD.
Einer
der wenigen, der in der Diskussion am Mittwoch wirklich einen nachvollziehbaren und vernünftigen Standpunkt vertrat, war Regierungspräsident Wittek. Man kann ihm nicht vorwerfen, er würde die Augen verschließen, wie er es am Mittwoch so oft zu hören bekam, wie er es generell so oft zu hören bekommt in letzter Zeit, ihm sind die Probleme, die es gibt, durchaus bewusst. Und er versucht, die bestmögliche Lösung für alle Beteiligten zu finden. Es löse nicht die Probleme dieser Welt, wenn wir alle Flüchtlinge aufnehmen, aber im Moment sei es erstmal nötig, das zu tun, so Wittek.
Man kann nicht die Augen verschließen, wenn rund um uns herum die ganze Welt im Chaos versinkt und wir hier im sicheren Deutschland sitzen und es unsere einzige Sorge zu sein scheint, ob die Flüchtlinge uns irgendetwas wegnehmen. Denn das sei klar gestellt: Niemand kommt kürzer, nur weil wir diese Menschen aufnehmen. Niemand bekommt weniger, weil sie auch etwas bekommen. Und wer sind wir, uns anmaßen zu können, zu sagen, hier in „unserem“ Land sind diese Menschen nicht willkommen?
An diesem Abend wird deutlich, dass es noch ein weiter Weg ist, bis die Menschen das verstanden haben – bis die einen ihre Unsicherheiten und Ängste und die anderen ihren Fremdenhass abgelegt haben. Was hilft: Mit diesen fremden Menschen in Kontakt treten, mit ihnen kommunizieren, um Unsicherheiten abzubauen. Denn der Großteil dieser Beunruhigung, dieser Sorgen und Ängste basieren auf Unwissenheit über fremde Kulturen und Lebensweisen.
Und so gab es an diesem Abend auch durchaus positive Eindrücke: Menschen, die genau das wollen: In Kontakt treten. Die helfen und die sich engagieren wollen, die wirklich sinnvolle Vorschläge machten. Sie gingen fast unter in dem Wortgefecht zwischen CDU- und AfD- Mitgliedern, aber sie waren da und wollten helfen. Und das milderte den bitteren Geschmack, den die Veranstaltung hinterließ, etwas ab.