Gießen | Die "Initiative gegen das Vergessen" hat uns diesen Hintergrundtext zukommen lassen. In Absprache veröffentlichen wir ihn nun hier. Am 22.4. wurden am Bahnhof dazu Texte verlesen, sowie ein Schild angebracht, letzteres wurde mitlerweile wieder entfernt. Was wir mit Bedauern zur Kenntnis genommen haben und hoffentlich in den nächsten Tagen wieder aufgehangen wird:
Benennung in Esther-Stern-Platz
Nach der Umgestaltung des Bahnhofsbereichs anlässlich der Landesgartenschau 2014 in Gießen entstand dort ein Vorplatz. Dieser trug bisher keinen Namen, wurde nun jedoch zum Esther-Stern-Platz benannt und feierlich eingeweiht.
Bei der Suche nach einem geeigneten Namen war ein Bezug zur Stadt Gießen sowie zum Bahnhof ausschlaggebend. Eine der ersten Assoziationen war die vom Güterbahnhof ausgehende Deportation der in Gießen lebenden jüdischen Bevölkerung. Die Aufarbeitung der NS-Zeit in der Gießener Stadtgeschichte bleibt nach wie vor unvollständig.
Esther Stern erlitt ein Schicksal, welches mehrere Taten beinhaltet, die Menschen während dem NS angetan wurde: Sie wurde aus der Schule ausgeschlossen, zu Zwangsarbeit und unfreiwilligen Umzügen gezwungen und schließlich in ein Vernichtungslager deportiert.
Schicksale personifizieren
Es ist für uns von besonderer Wichtigkeit das Schicksal der Verfolgten der Nazizeit nicht bei einer Anzahl von Menschen zu belassen, sondern die individuellen Schicksale sichtbar im Stadtbild zu verankern. Menschen wurden wegen ihrer Religion, Herkunft, politischen Zugehörigkeit, sexuellen Orientierung oder ähnlich perfiden Gründen aus der „Volksgemeinschaft“ systematisch ausgeschlossen und mussten dafür oft ihr Leben lassen. Dabei wurden Menschen kategorisiert und auf diese „Merkmale“ reduziert. Letztendlich entschieden auch Gießener Institutionen darüber, wer als jüdisch, asozial, Kommunist, Roma usw. galt.
Doch warum Esther Stern?
Bei der Recherche stießen wir auf die Familie Stern aus Gießen. Die Familie zog 1922 in das Haus am Marktplatz 11 (heute 15), vor dem heute ein Stolperstein für Julius, Claire und Esther Stern liegt. 1933 musste die Familie aus dem Haus ausziehen und konnte bei der Familie Rosenberger zur Untermiete wohnen. 1935 mussten sie auch diesen Wohnort verlassen, um in eines der sogenannten „Ghetto-“ oder „Judenhäuser“ in der Walltorstraße 48 zu ziehen. Am 24.03.1938 musste Esther Stern die Schule verlassen und fortan in einer Gummifabrik arbeiten, was aus einer Steuerkarte vom 30.11.1940 hervorgeht. Zu diesem Zeitpunkt war Esther Stern gerade erst 14 Jahre alt.
Auszüge aus dem Text des Stolperstein-Projektes:
Am 24.03.1938 musste Esther, wie viele andere jüdische Schülerinnen und Schüler in Gießen, die Schule verlassen. Bemerkung im Klassenbuch: "Am 24.III. laut Verfügung des Stadtschulamtes entlassen." Zunächst wurde von der jüdischen Gemeinde eine Behelfsschule im Gemeindehaus der Synagoge in der Südanlage eingerichtet. Hier wurden die jüngeren jüdischen Kinder unterrichtet. Bei der Zerstörung der Synagoge in der Reichspogromnacht wurde auch das Gemeindehaus zerstört, so dass Unterrichtsräume nicht mehr zur Verfügung standen. Der Schülerin wurde somit jegliche Möglichkeit genommen ihre Schulausbildung mit einem Abschluss zu beenden.
Die Lebensbedingungen für die Familie, die noch die Tante, Jettchen Stern, aufgenommen hatte, wurden immer schlechter. Immer wieder baten die Eltern in Briefen ihre Kinder Helmut und Sonja in Palästina um Hilfe zur Ausreise und forderten sie auf, alle Familienmitglieder, die schon im Ausland waren, in diese Bemühungen einzubinden.
1940 verstarb Tante Jettchen, deren Grab auf dem Neuen Friedhof ist. Am 14.09.1942 wurde Esther mit ihren Eltern und allen anderen Juden, die zu dieser Zeit noch in Gießen lebten, in die Goetheschule gebracht. Die Familie konnte nur das Nötigste in einen Rucksack und einen Koffer unter Aufsicht einpacken. Zwei Tage später wurde die Gruppe nach Darmstadt deportiert und am 30. September wurde Esther mit ihren Eltern von hier aus in das Generalgouvernement (Polen) deportiert.
Auf der Steuerkarte findet sich der Vermerk: "verzogen am 1.11.42 nach unbekannt". Der Tag und der Ort ihrer Ermordung sind nicht bekannt. Am 08.05.1945 wurde Esther für tot erklärt.
Familienmitglied mit Bezug zu Gießen
Esthers Stiefbruder Josef „Helmut“ Stern, Sohn von Julius Stern aus erster Ehe, war vor über 50 Jahren Mitbegründer des Vereins „ehemaliger Gießener und der Umgebung“ in Haifa (Israel). Die meisten Gründungsmitglieder flohen einst vor der Verfolgung durch das NS-Regime – wie auch Josef und seine Schwester Sonja. Die FAZ veröffentlichte im vergangenen Jahr zum 50-jährigen Bestehen des Vereins einen Artikel, in dem es unter anderem heißt:
Stern selbst, der mit seiner Familie als Fünfzehnjähriger noch vor den großen Deportationen geflüchtet war, ehrte die Stadt Gießen vor einigen Jahren mit der Hedwig-Burgheim-Medaille, die sie für herausragende Verdienste um Verständigung und Versöhnung vergibt. Tatsächlich wäre beispielsweise die alle zwei Jahre stattfindende Begegnungswoche, während der ehemalige, vertriebene Gießener ihre alte Heimat besuchen, ohne das Engagement des Vereins kaum möglich. Auch das Zustandekommen der Städtepartnerschaft Gießens mit Natanya, die Ende der siebziger Jahre besiegelt wurde, ist nicht zuletzt dem Verein der Ehemaligen zu verdanken, dessen Mitglieder Kontakte knüpften und halfen, Vorbehalte auszuräumen.
Es sind Geschichten – sowohl die der Familie Stern als auch die vieler anderer Familien – die mit der Stadt Gießen verwoben sind. Es sind Menschen, die heute noch unter uns leben könnten. Und es waren Gießener und Gießenerinnen, welche die Verantwortung dafür trugen, dass Menschen fliehen mussten oder in den Tod geschickt wurden.
In nicht all zu ferner Zukunft wird der Tag kommen, an dem es keine Überlebenden mehr gibt, die ihre Geschichte erzählen können. Für die Aufarbeitung der (Stadt-)Geschichte sowie das Geschichtsbewusstsein ist es unverzichtbar die Erinnerung an diese Zeit und die Menschen aufrechtzuerhalten.